Kapitel 20: Die Lehre vom Himmel

In dem riesigen Hörsaal findet Edgar Wissenschaftler aus allen Epochen vor. Beginnt hier seine Suche nach der „Lehre vom Himmel“?

Edgar ging davon aus, dass die große Anzahl an Hörern daher rührte, dass die Seelen aus unterschiedlichen Epochen stammten, also zum Teil viele hundert Seelenjahre alt waren. Folglich musste es in dem Vortrag hier um ein sehr altes, sehr grundlegendes Wissensgebiet gehen, das mehreren kulturellen Disziplinen ein Fundament geben konnte. Edgar konzentrierte sich auf den Vortragenden und stellte überrascht fest, dass dieser über die verkaufsbeeinflussenden Wirkungen des Zusammenspiels von Form und Funktion von IT-Produkten auf den Massenmarkt des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts referierte. Edgar wandte sich an die Seele, die neben ihm saß und das Aussehen eines Mannes in vorgerücktem Alter hatte. „Entschuldigen Sie, ich bin neu hier, können Sie mir sagen, wie es sein kann, dass sich so viele Seelen einem so modernen Thema zuwenden?“ Der Angesprochene mustert ihn mit großen Augen. „Sie müssen zufällig hier hereingeraten sein.“ „Das stimmt, aber wie kommen Sie darauf?“ „Weil wahrscheinlich alle anderen Hörer nur wegen des Vortragenden hier sind.“ „Ich nehme an, ich müsste ihn kennen?“ „Ja – und wenn Sie im einundzwanzigsten Jahrhundert gestorben sind, auf jeden Fall. Es ist Steve Jobs, Gründer und Mastermind des IT-Unternehmens Apple. Seit er hier ist, spricht er quasi ununterbrochen vor einem Megapublikum.“ „Aber wie ist das möglich? Ich meine, so viele wissenschaftlich interessierte Menschen werden ja seit Jobs’ Tod nicht gestorben sein, oder doch?“ „Das nicht, aber die Wissenschaftler vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte sind mindestens ebenso interessiert an Neuerungen, wie die der jüngsten Vergangenheit. Wissenschaftliche Neugier endet nie, wissen Sie? Vor allem, wenn man immer am Ball geblieben ist. Andererseits spricht es sich auch in allen der Gegenwart zugewandten Bereichen wie ein Lauffeuer herum, wenn ein Prominenter stirbt. Viele kommen nicht wegen des Inhalts des Vortags, sondern um Jobs live zu erleben.“ „Was meinen sie mit ‚der Gegenwart zugewandten Bereichen‘?“ Der Mann musterte Edgar einmal mehr mit großen Augen. „Sie sind noch nicht lange tot, stimmt’s?“ „Doch, doch, aber ich … offenbar habe ich mich zu wenig um diese Dinge gekümmert.“ „Es wird Ihnen aufgefallen sein, dass viele Bereiche des Himmels Themen abdecken, die Sie aus Ihrem Alltagsleben kennen und die hier so gehandhabt werden, wie Sie es auch in Ihrem Leben auf der Erde taten.“ „Ja, ist mir aufgefallen.“ „Das liegt daran, dass die meisten Seelen, wenn sie neu hier ankommen, den Lebensstil beibehalten, den sie gewohnt sind. Im Laufe der Zeit, wenn mehr und mehr neue Seelen hinzukommen, verändert sich diese Lebensweise so weit, dass die älteren Seelen nichts mehr damit anzufangen wissen. Ein Generationenproblem, wenn Sie so wollen. Die älteren Seelen wenden sich dann anderen Interessen zu oder gründen eigene Himmelsbereiche, in denen sie ihren gewohnten Lebensstil weiterleben wie bisher, womit sie im Laufe der Zeit immer weiter ins Abseits rutschen. Diese Bereiche betritt eine außenstehende Seele nur, wenn sie gezielt einen alten Verwandten oder Bekannten sucht, der darin lebt. Diejenigen, die auf den Zug der Zeit aufspringen und sozusagen jung mit den Jungen bleiben, bilden nur eine verschwindende Minderheit.“ Edgar war begeistert! Er hatte also die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Beispiel seiner Großeltern gezogen. Die Vorstellung, dass der gesamte Himmel voller quasi abgeschlossener Blasen war, in denen jeweils ein Klüngel Seelen in einer Weise lebte, die sonst niemand wollte, faszinierte ihn. Kurz malte er sich aus, wie viele Generationen schon vor ihm im Himmel eingetroffen sein mochten, wie viele unterschiedliche Interessensbereiche es wohl geben mochte und wie viele kleine, regional abgeschlossene Gemeinschaften. Die Anzahl dieser Blasen musste schier unendlich groß sein! In seiner Begeisterung überfiel er seinen Sitznachbarn geradezu mit Fragen. „Was ist das hier überhaupt? Bin ich hier in einer Universität? Wie ist das hier geordnet, ich meine, der Olymp der Wissenschaft?“ Sein Gesprächspartner lächelte. „Der Tempel auf dem Gipfel des Olymps der Wissenschaft ist das Portal zu den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, die durch die Säulen symbolisiert sind. Hier befinden Sie sich bei den Wirtschaftswissenschaften.“ „Und woher weiß ich, in welcher Säule welche Wissenschaft steckt?“ „Seien Sie doch nicht so weltlich! Sie wünschen sich einfach zu der wissenschaftlichen Disziplin Ihrer Wahl und gehen auf eine beliebige Säule zu.“ Edgar musste unwillkürlich lachen, denn wenn das so war, brauchte es ja gar kein Portal wie diesen Olymp der Wissenschaft, um hierher zu gelangen. Dass es ihn hierher verschlagen hatte, mochte daran liegen, dass er sich vorhin gefragt hatte, wo die Spuren der Gegenwart seien. „Gibt es hier eine Wissenschaft, die sich um die Erforschung des Himmels kümmert?“ Edgars Gesprächspartner sah ihn schon wieder mit großen Augen an, diesmal jedoch in einer Weise, als sei ihm diese Frage noch nie in den Sinn gekommen. Dann schüttelt er langsam den Kopf. „Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen.“ „Woran liegt das?“ „Ich nehme an, an den schier unendlichen Möglichkeiten, die der Himmel uns Wissenschaftlern bietet. Wir können hier in einem Zustand ohne Limit arbeiten, ohne finanzielle Forschungsmittel auftreiben zu müssen und mit Methoden, die zum Teil körperlich gar nicht möglich wären. Das hätten wir uns in den Verhältnissen, in denen wir vor unserem Tod waren, nicht einmal zu träumen gewagt. Im Mikro-, wie im Makrobereich können wir hier Materialien auch außerhalb der physikalischen Grenzen manipulieren, denen wir im Diesseits unterworfen waren. Das gibt uns einen völlig neuen Zugang zur Forschung in unseren Spezialdisziplinen. Da hat keiner mehr Kapazitäten frei, um zu sagen: Jetzt erforschen wir den Himmel.“ „Aber interessiert niemanden, woher das alles kommt? Wie es funktioniert?“ „Aber natürlich tut es das. Das Problem ist nur, dass es eben keine eigene Wissenschaft gibt, die sich um die Erforschung des Himmels kümmert. Folglich existiert auch kein Feld, auf dem sich ein fähiger Wissenschaftler profilieren könnte.“ „Aber wäre es kein lohnendes Ziel, eine solche Wissenschaft aufzubauen und sich damit zu profilieren?“ Der große Blick von Edgars Sitznachbarn wurde diesmal von Gelächter begleitet. „Selbstverständlich wäre es das! Nur leider beißt sich hier die Katze in den eigenen Schwanz: Wenn ein ehrgeiziger Wissenschaftler in den Himmel kommt, lernt er die verfügbaren Möglichkeiten kennen und beginnt quasi automatisch damit, seine auf der Erde begonnene Forschung fortzusetzen; es ist einfach zu verlockend. Und – schwupps! – schon ist er mitten in der Sache drin, hangelt sich von einer Erkenntnis zur nächsten, publiziert seine Forschungsergebnisse, führt fachliche Polemiken und kommt überhaupt nicht mehr auf die Idee, etwas anderes anzugreifen.“ „Ich kann nicht glauben, dass es nie den Versuch gegeben hat, eine solche Disziplin zu gründen.“ Edgar schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich bin mir sicher, das hat es. Aber offenbar wurde dieser Versuch nicht von ausreichendem Erfolg gekrönt, um fortgeführt zu werden.“ „Wo, glauben Sie, könnte ich Seelen finden, die das versucht haben?“ Der Mann dachte nach. „Ich würde sagen, am ehesten kämen für so etwas die Religionswissenschaftler in Frage. Oder die Philosophen. Eventuell auch die Thanatologen. Wobei … nein, ich an Ihrer Stelle würde bei den Naturwissenschaftlern beginnen.“ * * * Edgar konnte es einfach nicht fassen. Er hatte in seinem irdischen Leben so viel über diesen Mann gehört, und auch wenn er nie einen wirklich tiefen Einblick in dessen wissenschaftliche Arbeit gewonnen hatte, so war von ihm doch immer wieder in Fernsehdokumentationen als vom „Vater der modernen Wissenschaft“ gesprochen worden. Er war es, der als Erster die Schöpfungslehre der Kirche wissenschaftlich widerlegt hatte. Und jetzt saß er, Edgar, in einem voluminösen Ledersessel vor dem Büro dieser historischen Persönlichkeit und warte auf eine Audienz. Von der Einrichtung der Arbeitsräume her zu schließen, hatte es der alte Mann gern rustikal – vielleicht war er aber nur dem Stil seiner Zeit verhaftet geblieben. Das hätte auch erklärt, warum er einen Kammerdiener hatte, der sich Edgar nun in einer Uniform näherte, in der er wie eine aufrecht gehende Schildkröte im Panzer wirkte. „Sie dürfen nun eintreten“, sagte dieser in einer Weise, als würde Edgar dadurch eine besondere Gnade zuteil. Und als wollte er diesen Eindruck noch verstärken, trat der Diener an eine alte, polierte Holztür und öffnete sie für Edgar. An der Tür prangte ein ebenfalls auf Hochglanz poliertes Messingschild mit der verschnörkelten Aufschrift „Charles Robert Darwin“. Die schwere Messingklinke klackte laut, das Holz und die Angeln knarrten. Es war, als führte der Schritt durch die Tür Edgar in eine versunkene, fremde Welt: Der Boden von Darwins Arbeitszimmers war mit Dielenbrettern ausgelegt, die sich im Laufe offenbar sehr langer Zeit verzogen hatten, so dass sich zwischen ihnen ungleichmäßig breite Spalten gebildet hatten. Da die Bretter sauber poliert waren, wirkte diese Unregelmäßigkeit nicht unordentlich, sondern heimelig. Alle Wände waren bis zur Decke mit massiven Schränken und Regalen aus rötlichem Holz verbaut, deren Fächer großteils dicke Folianten trugen. Auch die Decke war mit Holz verkleidet, sie zeigte ein einfaches Kassettenmuster, und so wie der Boden, waren alle Holzflächen in diesem Bureau auf Hochglanz poliert. Die Strahlen der Sonne, die durch die Glasfelder eines riesigen Bogenfensters gegenüber der Eingangstür hereinfielen, spiegelten sich golden an vielen dieser Flächen. Auch an einem Globus von etwa anderthalb Metern Durchmesser, der neben einem wuchtigen, direkt vor dem Fenster platzierten Schreibtisch stand, welcher auf verschnörkelten Beinen ruhte. Hinter dem Schreibtisch und durch das Gegenlicht für Edgar nur als Silhouette erkennbar, thronte, regungslos, wie ein Monument der Naturwissenschaft, Charles Darwin. Das Gegenlicht war so intensiv, dass Edgar Darwins Gesicht erst erkennen konnte, als er direkt am Tisch stand. Der große Forscher sah genauso aus, wie er ihn von Fotos aus dessen Altersjahren in Erinnerung hatte: Ein weißer Haarkranz umrahmte seine Glatze und ging in einen mächtigen Rauschebart über. Unter der faltigen Stirn erhoben sich die charakteristisch ausgeprägten Augenwülste, an denen buschige Brauen wuchsen. Als Edgar in die winzigen stechenden Augen sah, die aus den darunterliegenden tiefen und dunklen Höhlen hervorstarrten, erschrak er. Der Blick dieser Augen hatte etwas einschüchternd Primitives, es war, als seien es die eines Gorillas und nicht die eines der bedeutendsten Wissenschaftlers der Menschheit. Zögernd streckte Edgar die Hand zum Gruß aus. Darwins Augen zuckten kurz zu der Hand, suchten dann aber wieder Edgars Blick. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er überhaupt in Bewegung kam und dann noch eine Ewigkeit, bis er seine Hand hob und die von Edgar ergriff. Die Bewegungen des alten Mannes wirkten so umständlich, dass Edgar glaubte, das damit einhergehende Knarren käme von dessen Gelenken und nicht vom voluminösen, lederbezogenen Polstersessel, in dem er sich nach vorne beugte. Darwins Hand fühlte sich schlaff an. „Schmied, angenehm.“ Seine eigenen Worte kamen Edgar banal vor, fast schon dumm. Charles Darwin sagt nichts, er deutete nur auf den Boden hinter Edgar, als böte er ihm einen Sitzplatz an. Tatsächlich stand da plötzlich ein kleiner, einfacher Holzstuhl, der ebenfalls knarrte, als Edgar sich auf ihm niederließ. Das fortwährende Schweigen des Wissenschaftlers verunsicherte ihn, es verhinderte eine Einschätzung dessen Charakters.

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