Kapitel 7: Ein Zuhause für die Seele

Selbst im Himmel braucht die Seele ein Refugium, in das sie sich zurückziehen kann. Der Weg dorthin führt Edgar in sein tiefstes Inneres.

Als die Nebel die neue Umgebung geboren hatten, fand Edgar sich in einem europäischen Urwald wieder, einem Wald, an den noch nie ein Mensch Hand angelegt hatte. Gigantische Laubbäume wurzelten hier in felsigem Untergrund, manche von ihnen schienen auf ihren kräftigen, stammdicken Wurzeln zu stehen, welche sich so eng über grobe Felsbrocken schlängelten, als wollten sie diese zerdrücken. Die Felsbrocken lagen willkürlich verstreut, als wären sie in grauer Vorzeit von einem zornigen Riesen hierhergeschleudert worden; sie waren von dunkelgrünem Moos überzogen, aus dem das Wasser tropfte. Manche von ihnen ragten, von feuchtem Nebel umwabert, nass und dunkel glänzend aus Senken hervor, in denen sich moorbraune Tümpel gebildet hatten. Das Klima in diesem Wald war feucht und kühl, wie nach einem Gewitter, und das Licht war nicht mehr als ein für Edgar anregend geheimnisvolles Halbdunkel, weil das Tageslicht vom dichten Blätterdach abgeschirmt wurde. Die Bäume wuchsen im Abstand von mehreren Metern, wodurch Edgar ungewöhnlich weit in den Wald hineinsehen konnte; so weit, dass sein Blick sich in der Düsternis verlor. Außer dem Geräusch von herabfallenden Tropfen war nur ab und zu der Schrei eines Waldvogels zu hören, der von den Baumstämmen widerhallte, als würde sein Schall sich in diesem Labyrinth ebenso verlieren, wie Edgars Blick. Edgar war wieder jung, vielleicht sechs Jahre alt. Er lebte alleine hier, doch er hatte keine Angst. Dieser Wald gehörte zwar nicht ihm, das wusste er, aber er war sein Zuhause. Er fühlte sich in ihm so geborgen, wie er sich im Bauch seiner Mutter gefühlt hatte; ja, daran konnte er sich nun erinnern. Der Wald war beseelt, Edgar konnte jeden einzelnen Baum, jedes hier versteckt lebende Tier, jeden Pilz im Unterholz spüren, wenn er wollte. Aber er wollte nicht, denn es war die Gesamtheit der Eindrücke, die er von all diesen Lebewesen empfing, die eine Symphonie von Gefühlen ergab, deren Schwingung auf ihn überging und ihn mit einem kaum beschreibbaren Glück erfüllte. Es hatte also funktioniert, er war in seinem Innersten angelangt. Er atmete tief ein und war überwältigt davon, wie frei sich das anfühlte. Feuchte Luft, Moos, würzige Pilze, all das roch er in dieser Luft, all das war ihm innig vertraut. Tapfer marschierte der kleine Edgar los. Es war gar nicht so einfach, hier voranzukommen, denn der Boden war mit morschen Ästen bedeckt, unter denen kleine Beerenbüsche, Gestrüpp und dornenbesetzte Ranken wuchsen. Bei jedem Schritt brach er ein, wobei er sich blutige Striemen zuzog, denn er war nur mit einer kurzen Hose bekleidet. Als er seinen bloßen Beinen entlang hinabsah, erkannte Edgar, dass diese mit kleinen Schrammen bereits übersät waren, die sich in unterschiedlichen Stadien der Heilung befanden. Aber das macht ihm nichts aus, im Gegenteil, er fühlte sich mit ihnen wie ein Held. Schon nach wenigen Schritten verwandelte sich der Wald, er mutete jetzt südeuropäisch an. Sein vorherrschender Farbton war hellbraun, die Bäume kleiner und dünner, dafür aber unregelmäßiger gewachsen und knorrig. Da sie nun noch weiter auseinanderstanden, konnte Edgar den Himmel durch ihre Kronen hindurchschimmern sehen. Es war nun Nacht, die Sterne funkelten vor einem schwarzen Hintergrund und ein riesiger Vollmond leuchtete so hell, dass Edgar fast geblendet war. Auch das Klima hatte sich geändert, die Luft war spürbar wärmer und der Boden staubtrocken. Edgar hörte eine Unzahl von Zikaden ein unermüdliches Konzert spielen und sie spielten nur für ihn. Denn auch dieser Wald war beseelt und auch hier war er der einzige Mensch. Doch Edgar fühlte, dass er hier nicht mehr zuhause war, er war hier eher ein lieber, jederzeit willkommener Gast. Als ein warmer Lufthauch den Wald durchzog, wurde Edgar bewusst, dass er Haare auf den Armen hatte, denn diese richteten sich dabei in einem wohligen Schauer auf. Er erkannte, dass er zu einem Jugendlichen herangereift war. Wieder atmete er tief ein; in der warmen, trockenen Luft fühlte er sich wie in einem Urlaub im Süden. Er ging weiter, was nun ohne Widerstand möglich war, zumal der Boden eben und hart war. Bis auf vereinzelte Pinienzapfen, etwas Laub und kleine Äste gab es keine Hindernisse hier. Da öffnete sich eine Lichtung vor ihm, die vom Mond hell ausgeleuchtet wurde. Als er sie betrat und Unregelmäßigkeiten am Boden spürte, hielt er inne und sah hinab. Er stand auf einer Halde von unzähligen gleichmäßig großen Steinquadern, die offensichtlich von Menschen behauen waren. Doch das musste vor langer, langer Zeit geschehen sein, denn sie waren verwittert und mit Flechten bewachsen und lagen ungeordnet, als stammten sie von einem Gebäude, das schon vor einer Ewigkeit in sich zusammengestürzt war. Edgar sah wieder auf und überblickte die Lichtung, die ihm einen atemberaubenden Anblick bot. Im blaugrauen Licht-Schatten-Kontrast des Mondlichts breitete sich die Ruine eines antiken römischen Thermalbades vor ihm aus. Niedrige, teilweise mit Efeu überwucherte Mauerreste umrandeten ein aus Steinquadern gefertigtes Becken, das zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. Edgar trat an den Rand dieses Beckens und sah, dass direkt vor ihm eine kleine Seerosenkolonie auf der Wasseroberfläche ausgebreitet lag. Helle Blüten schwammen zwischen kreisrunden eingekerbten Blättern, auf denen vereinzelt Frösche quakten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Bassins führt eine breite Steintreppe in das Wasser hinab, das so klar war, dass Edgar trotz der Dunkelheit den Boden des Beckens erkannte. Zwar verschluckte die Nacht jede Farbe, doch konnte er fühlen, welch geheimnisvolles Türkisgrün die schimmernde Flüssigkeit färbte. Bei diesem Anblick beschleunigte sich der Herzschlag des Jugendlichen und er rang um Atem, doch er musste sich von diesem Ort losreißen. Er spürte, dass er noch nicht angekommen war, wo er ankommen sollte – wo er ankommen wollte, ohne es selbst zu wissen. Nur wenige Schritte weiter veränderte sich die Umgebung völlig und das, obwohl Edgar keinen Übergang bemerkte. Es war nun helllichter Tag und ein böiger, salziger Wind blies ihm ins Gesicht. Er stand auf einer Klippe und überblicke die Unendlichkeit eines Ozeans, der sich vor ihm ausbreitete. Das Klima hier war tropisch, feucht und heiß und die Luft so diesig, dass am Horizont das Meer ohne erkennbare Grenze in den Himmel überging. Als er an sich hinabblickte, erkannte Edgar, dass er nun erwachsen war. Tief unter ihm brandeten die Wogen mit solcher Gewalt an die Felsen, dass er trotz des Windes ihr Donnern hörte. Am Sandstrand, der sich rechts unter ihm in einer weiten Sichel der Küste entlang ausbreitete, rollten niedere Wellen langsam aus und hinterließen kurzlebige weiße Gischtstreifen. Von der Harmonie dieses Bildes angezogen, wandte er sich diesem Strand zu und begann seinen Abstieg. Auch jetzt genügten ein paar wenige Schritte und schon hatte er die geschätzten einhundert Höhenmeter bis zum Wasser überwunden. Dort stand er lange Zeit und beobachtete, wie die Ausläufer der Wellen seine Zehen umspielten, sich wieder zurückzogen und dabei an seinen Fersen zerrten. Er spürte, wie der Sand unter seinen Fußsohlen weggespült wurde, sah zu, wie seine Zehen im Sand versanken. Der Wind war hier nur noch eine warme Brise und das Rauschen der Wellen unterlegte den Frieden in Edgars Herz mit einem pulsierenden Rhythmus. Rechts von ihm bildete eine Reihe von Felsbrocken eine unregelmäßige Mauer, die weit ins Meer hinausging. Einem spontanen Impuls folgend, hüpfte er auf den ersten dieser Felsen und balancierte dann bis zum Ende der Mauer hinaus. Dort war das Wasser mehrere Meter tief und glasklar, der helle Sand des Bodens gab ihm einen himmelblauen Farbton. „Es ist das Paradies!“ Edgar musste unwillkürlich über diesen Gedanken lachen. Er war tatsächlich im Paradies und was tat er? Er erschuf sich eine Welt, die so aussah, wie er sich als Lebender das Paradies vorgestellt hatte. Es erschien ihm verrückt, doch noch verrückter war, dass er sich im selben Moment Sorgen darüber machte, dass er keine Sonnencreme bei sich hatte. Da musste er wieder lachen. Geraume Zeit später saß Edgar auf dem äußersten Felsen der natürlichen Mauer und blickte zum Horizont, wo die Kimm in den Himmel überging. Ein würziger Tabaksduft stieg von seiner Zigarre auf, er zog an ihr und entließ den Rauch wieder in den Wind, welcher ihn in wirren Wirbeln davontrug. „Das hier ist also der Himmel“, dachte er, „das hier ist das Paradies. Klar, jeder macht was er will, zwischen einem Wunsch und seiner Erfüllung besteht kein Unterschied mehr.“ Edgar fragte sich, was er bis in alle Ewigkeit hier tun werde und wusste im selben Moment die Antwort: „Was immer ich möchte.“ Er fragte sich, ob das auf Dauer nicht langweilig würde und blickte auf die Zigarre hinab. Dann lächelte er und hob die andere Hand, die nun ein Longdrinkglas hielt, in dem einige Eiswürfel in einer braunen Flüssigkeit klimpern. Nein, dachte er, in nächster Zeit würde ihm wohl nicht langweilig werden. Er sog am Trinkhalm und nickte sich selbst zu. Kein Zweifel, das hier war der beste Cuba Libre, den er je getrunken hatte. * * * „Danke, dass du mir meine Heimat gezeigt hast“, sage Edgar zu Fred, nachdem er sein persönliches Paradies wieder verlassen hatte. „Die hast du dir selber gesucht“, erwiderte dieser. „Ja, aber ohne dich wäre ich nicht auf die Idee gekommen, sie in mir drin zu suchen.“ „Ich will deine Dankbarkeit mir gegenüber keinesfalls schmälern, aber du wärst schneller auf diese Idee gekommen, als du glaubst.“ „Ich denke, das wird mein Rückzugsgebiet. Wenn ich es richtig sehe, werde ich mich hier von einem Ort zum nächsten wünschen, ich fürchte, da würde ich schnell orientierungslos werden, wenn ich keinen fixen Ort habe, an den ich zurückkehren kann.“ „Heimatlos trifft es eher“, murmelte Fred, mehr zu sich selbst. „Ich nehme an, du hast auch so einen Ort?“ „Ja. Wenn es dir recht ist, zeige ich dir jetzt einmal, was hier noch alles so abläuft.“ „Das ist mir sogar sehr recht! Seit ich von meinem Strand zurück bin, fühle ich mich, als hätte ich neue Kraft getankt.“ Fred mustert Edgar und meinte mit einem schrägen Grinsen: „Ich denke, ich weiß, wo du dich wohlfühlen wirst.“ Nachdem sich die Umgebung in farbige Nebel verwandelt, diese sich vermischt, neu angeordnet und zu einer neuen Umgebung konkretisiert hatten, befanden sich die beiden auf einem Fußballfeld. Nicht auf jenem in dem riesigen Stadion, sondern auf einem einfachen Bolzplatz, auf dem fleißig gekickt wurde. Edgar und Fred waren nun in Trainingsdressen gekleidet, sie trugen kurze Hosen, T-Shirts, Sportsocken und Schuhe mit Stollen. Die Farben erinnerten Edgar an Bonbon-Papier, nicht unbedingt die Wahl, die er getroffen hätte. „Hast du uns diese Sachen gewünscht?“, fragte er Fred mit leisem Vorwurf. Dieser musterte Edgar vom Scheitel bis zur Sohle, blickte dann an sich selbst herab und fragte, indem er die Augenbrauen zusammenzog: „Was stimmt nicht damit?“ „Ich weiß nicht … ich denke nur, ich hätte mir etwas … sagen wir einmal … Gängigeres gewünscht.“ „Ja, das hast du offensichtlich.“ Edgar verstand nicht, was Fred meinte, bis er erkannte, dass sie nun plötzlich beide Trainingskleidung trugen, die genauso aussah wie jene, die Edgar und seine Freunde immer angehabt hatten, als er noch am Leben gewesen war. Während Fred feixte und losrannte, um mit den anderen Spielern den Ball zu jagen, fragte sich Edgar, wie lange ihn solche Dinge wohl noch beschäftigen würden.

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