Kapitel 3: Himmel und Hölle

Edgar wird Teil der Glückseligkeit – aber nicht lange.


Da Edgar nun imstande war, die Lebenden von den Toten zu unterscheiden, fiel ihm auf, wie viele Tote oder in einem Zwischenzustand von Leben und Tod befindliche Seelen sich allein in seiner Sichtweite befanden. Etwas weiter gangaufwärts stand ein Krankenbett, in dem regungslos die Seele einer alten Frau lag. Dahinter schlurfte gebückt die Seele eines älteren Mannes heran, die bei jedem – egal ob lebend oder tot – stehenblieb und bettelnd die Hand aufhielt. Gangabwärts saßen zwei Seelen auf Besuchersesseln, die den Eindruck erweckten, sie würden miteinander Schach spielen, obgleich sich kein Brett zwischen ihnen befand. Vor ihnen, in der Mitte des Flurs, stand die Seele einer Frau mittleren Alters, die jeden Menschen an- und somit durch ihn hindurch sprang, der an ihr vorbeikam; anscheinend eine Art Zeitvertreib. 
Edgar fragte sich, wie viele dieser Seelen sich ihrer Situation bewusst waren und nur darauf warteten, bis ihre Körper starben oder reanimiert wurden. Irgendwie fühlte er sich wie in der Wartehalle eines Bahnhofs, von dem Züge ins Leben oder in die Ewigkeit abfuhren.
Wenn aber schon auf diesen paar Metern so viele Seelen wandelten, so überlegte Edgar weiter, wie viele mussten es dann im ganzen Krankenhausareal sein? Wenn er daran dachte, wie oft er zu seinen Lebzeiten beruflich in Krankenhäusern unterwegs gewesen war: Wie viele solcher Seelen hatte er wohl angetroffen, ohne es geahnt zu haben? Wie viele von ihnen hatten ihn wohl um Hilfe gebeten, waren durch ihn hindurchgegangen oder hatten ihm aus Langeweile ein Bein gestellt? 
Und wie viele waren es außerhalb des Krankenhauses? Die ganze Stadt musste nur so von Seelen wimmeln, die ihre Lage nicht begriffen oder die an ihre dahinsiechenden Körper gebunden waren. Sie irrten auf den Gehwegen und in den Einkaufszentren umher, kreuzten die Pfade der Lebenden, saßen unentschlossen und verständnislos in Parks und Wartezonen und wussten nicht, dass sie tot waren oder wann sie es sein würden.
„Wie schrecklich“, entfuhr es Edgar. 
Der Silberne schien seine Gedanken zu lesen, denn er erklärte: „Solche Seelen sind die Ausnahme, nicht die Regel. Vergiss nicht: Ein Krankenhaus ist ein Ort, an dem die meisten Leben enden und durch die medizinische Behandlung gibt es hier auch die meisten Zwischenstufen zwischen Leben und Tod. Da häufen sich solche Schicksale.“
Edgar musterte seinen silbernen Sitznachbarn und fragte sich mit einem Mal, wer er wohl war, dass er so viel wusste. Er betrachtete seine sachte pulsierende Aura und stellte fest, wie wundervoll sich der schiere Anblick dieses fließenden Schimmerns anfühlte. Mit einem Mal wusste er die Antwort: „Du bist ein Engel, habe ich Recht?“
„Ich bin dein Begleiter. Ich bringe dich nach drüben.“
„Ein Engel, der mich in den Himmel bringt.“
„Ich habe viele Namen in den verschiedenen Kulturen.“
„Was muss ich tun?“
„Du musst innerlich dazu bereit sein, diese Welt zu verlassen.“
„Woran erkenne ich, dass ich so weit bin?“
„Daran, dass dich nichts mehr hier hält.“
Edgar seufzte tief und zitternd. Er dachte an seine Frau und seine Kinder; sie waren die Einzigen, die ihn im Diesseits gehalten hätten. Aber wenn er bisher etwas verstanden hatte, dann, dass er nicht mehr an ihren Leben teilhaben konnte. Und die Vorstellung, als unsichtbarer Außenstehender zuzusehen, wie sie trauerten, wie sich Heike schließlich einen neuen Mann suchen und Matthias und Anni heranwachsen würden, ohne ihn auch nur wahrzunehmen, war für Edgar unerträglich schmerzhaft. „Ich glaube, ich bin hier fertig“, sagte er darum. 
„Möchtest du dich noch von jemandem verabschieden? Oder möchtest du dich bei jemandem entschuldigen?“
Edgar schüttelte bereits den Kopf, noch während er überlegte. Die wichtigsten Rechnungen waren beglichen und vor dem Abschiedsschmerz hatte er große Angst. Freilich hätte er gerne noch einmal seine Eltern gesehen, doch er getraute sich nicht. Mittlerweile hatte Heike sie längst über seinen Tod informiert und wahrscheinlich saßen gerade alle beisammen und trauerten in schierer Verzweiflung um ihn. Edgar würde es nicht ertragen können, sie das letzte Mal in diesem Schmerz zu sehen, einem Schmerz, den er verursacht hatte und den er nicht mindern konnte. Da würde er sie lieber so in Erinnerung behalten, wie sie für ihn waren: fröhlich, stark, zuversichtlich – und etwas eigensinnig.
Ansonsten waren ihm nur noch die Kollegen aus der Arbeit und die Freunde vom Fußballverein nahe, doch die einen hatte er gestern bei der Karnevalsparty getroffen und die anderen hatten vom Verein aus gefeiert. Die beiden Feste hatten sich jedes Jahr überschnitten, weshalb Edgar sie immer abwechselnd besucht hatte. Vermutlich bekämpften alle, die ihm lieb waren, gerade ihre Kater mit Bier oder Prosecco und machten niveaulose Witze. Das hätte Edgar zwar gefallen, doch wäre er auch hier nur ein Zaungast gewesen. Es war kein echter Abschied, wenn nur eine Seite Lebewohl sagte.
„Nein“, wisperte er, „ich glaube, ich bin hier fertig.“ Eine tiefe, alles einnehmende Traurigkeit umfing ihn. Er begriff, dass er jetzt gehen musste und dass alles, was er bisher gekannt und getan hatte, in wenigen Augenblicken nicht mehr sein würde, als Erinnerung.
„Es ist in Ordnung.“ Der Klang der Stimme des Silbernen beruhigte Edgar und er spürte, dass sein Begleiter ihn an der Schulter berührte. Es fühlte sich warm an, herzenswarm, schenkte Edgar ein Gefühl von Trost und Zuversicht. Er blickte noch einmal den Gang hinauf und sah, wie eine Pflegerin eine junge, anscheinend unversehrte Frau am Arm führte, die bitterlich weinte.
„Bitte nehmen sie hier Platz“, sagte die Pflegerin mitfühlend, „wir geben Ihnen Bescheid, sobald wir Näheres wissen.“
Edgar erkannte, dass das Schicksal gerade nach dem Nächsten griff und spürte tiefes Mitleid mit der jungen Frau. Er hoffte inständig, sie würde eine bessere Nachricht bekommen als Heike. Die Junge setzte sich langsam, nicht ahnend, dass sie dabei den Platz eines der Schachspieler einnahm, den das aber nicht zu kümmern schien.

Als Edgar bemerkte, dass die Umgebung heller wurde, glaubte er zunächst, die Gangbeleuchtung würde hinaufgedimmt, doch dann erkannte er, dass seine Wahrnehmung von der körperlichen Welt schwächer wurde. Die Kontraste schienen sich langsam in einem Nebel aus weißem Licht aufzulösen. Dieses immer intensiver werdende Weiß hatte jedoch nichts Störendes an sich, im Gegenteil, es wirkte auf Edgar wie ein Licht gewordenes Glücksgefühl, das ihn immer mehr und mehr in sich aufnahm. Er sah sich zum Silbernen um, doch dieser war verschwunden, an seiner Stelle befand sich nun der hellste Punkt des Lichts.
War das der Tunnel, von dem die Menschen nach Nahtoderfahrungen berichtet hatten, sie seien durch ihn hindurch ins Jenseits gelangt? Edgar hätte dieses Licht zwar nicht als Tunnel beschrieben, konnte aber verstehen, dass es als ein solcher aufgefasst werden konnte. Es war auch nicht so, dass er durch das Licht hindurchging, viel mehr breitete sich die Lichtquelle mehr und mehr aus und nahm ihn dadurch mehr und mehr ein, bis er schließlich vollends von diesem Weiß umhüllt, aufgenommen und durchdrungen war, das sich wie die Essenz von Wärme und Glückseligkeit anfühlte.

Edgar hatte sich nie wirklich für Religion interessiert. Er hatte Ostern gefeiert und Weihnachten und er hatte sich gefreut, wenn ihm ein kirchlicher Feiertag einen arbeitsfreien Tag bescherte, doch hätte man ihn gefragt, wie der jeweilige Feiertag hieß oder gar, welche Bedeutung er hatte, hätte er mit nicht mehr als einem gleichgültigen Schulterzucken antworten können. Sowohl seine als auch Heikes Familie hatten durchaus traditionsverbunden gelebt, aber weder seine noch Heikes Eltern waren gläubig genug gewesen, um in die Kirche zu gehen und deshalb hatten Edgar und seine Frau es genauso gehalten.

Und jetzt war er hier, im Himmel. Seine Seele schwebte darin, mehr noch: Sie war ein Bestandteil davon, wie ein Wassertropfen Bestandteil des Ozeans war. Er nahm sich selbst nicht mehr als menschlichen Körper wahr, sondern als gestaltlosen Teil seiner Umgebung. Und diese Umgebung war reines Weiß, hell und warm, und mehr ein Zustand als ein Sinneseindruck. Der Himmel hatte keine Farbe, er war ein Gefühl; ein Gefühl von unendlicher Geborgenheit und Glück.

Zeit seines Lebens hatte Edgar all jene mitleidig belächelt, die an so etwas wie einen Himmel, den lieben Gott und die Engel geglaubt hatten, hatte auf sie herabgeblickt und sich dadurch aufgeklärter gefühlt, erwachsener, vernünftiger. Wann immer er gefragt worden war, was er nach seinem Tod zu erwarten glaubte, hatte er mit dem Brustton der Überzeugung geantwortet, dass nach dem Leben nichts mehr käme. Leben war für ihn immer körperlich gewesen, ein Bereich, den er wahrnehmen und verändern konnte. Die Vorstellung anderer Menschen, ein Teil ihres Seins könne die irdische Existenz überdauern, hatte er als Produkt der Angst vor dem ewigen Nichts abgetan. Wenn er jetzt daran dachte, kam er sich klein und arrogant vor. Er verstand jetzt, dass er unter den Deckmantel der Vernunft gekrochen war, um Glaubensvorstellungen als Kindermärchen wegargumentieren zu können, so wie er immer schon alles Mysteriöse, Wunderbare und Unerklärliche aus seinem Leben verbannt hatte, das sich seiner Kontrolle entzog. Dabei, und auch das erkannte er erst jetzt, war selbst die Vernunft nichts anderes als ein Glaube. Schließlich musste man auch an sie glauben und sie leben, damit sie wahr wurde und geglaubt hatte Edgar an sie. Er hatte geglaubt, durch sie sicher zu sein, weniger dem Schicksal ausgeliefert, mehr in der Lage, die Dinge zu verändern. Er hatte nicht wissen können, was er jetzt wusste, als seine Seele mit der Ewigkeit eins war, nämlich, dass es nichts zu verändern gab, weil alles perfekt war, so wie es war.

Als Edgar spürte, dass seine erste Euphorie abflaute, versuchte er sie künstlich aufrechtzuerhalten, so lange, bis er sich eingestehen musste, dass er sich selbst belog. Doch weder konnte noch wollte er akzeptieren, dass seine Situation, dieses Einssein mit der Unendlichkeit, der endgültige Zustand sein sollte. Spätestens als seine Irritation in Unmut umschwenke, war er sich sicher, dass dies nicht das Leben nach dem Tod sein konnte, nicht, wenn Gott ein gutartiges Wesen war. Wie sollte er so die Ewigkeit verbringen, wenn er sich schon nach kurzer Zeit so sehr an das endlose Glück gewöhnt hatte, dass es ihm fade erschien?
Ehe Edgar es sich versah, schlichen sich Zweifel ein. War er möglicherweise gar nicht im Himmel? Er erinnerte sich einer Theorie, die besagte, dass Nahtoderfahrungen Sinnestäuschungen waren. Ihr zufolge waren Übergangs- und Himmelsvisionen nichts weiter als Hirngespinste, ausgelöst durch Endorphine, die ein sterbender menschlicher Körper ausschüttete, um den Übergang vom Leben zum Tod erträglich zu gestalten. Ähnlich wie ein Traum dem Verstand in wenigen Sekunden tagelange Zeitperioden vorgaukeln konnte, dauerten solche Übergangsvisionen nur kurz an und flauten ab, bis das Lebenslicht erlosch. Wenn das stimmte, fiel Edgar hier auf einen Schwindel seines eigenen Gehirns herein. Dann lag sein Körper erst seit einem kurzen Augenblick zerschmettert im Straßengraben oder befand sich gar noch in der Situation des Aufpralls und sein Kopf flog gerade von der Nackenlehne auf die Windschutzscheibe zu. Alles, was er seither erlebt hatte, war Einbildung gewesen und ein Leben nach dem Tod gab es nicht.

Umso mehr Edgar über diese Theorie nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien sie ihm. Er hatte auf seinen toten Körper herabgeblickt und dann war ihm ein Engel erschienen, der ihm den Weg durch einen Tunnel ins Licht des Jenseits gewiesen hatte. All das kannte er aus den Erzählungen derer, die zurückgekehrt waren. Gut, viele von ihnen hatten auch erzählt, sie seien im Jenseits von verstorbenen Verwandten oder von einem Lichtwesen empfangen worden. Das war Edgar zwar nicht widerfahren, doch konnte er sich durchaus vorstellen, dass dieses Gefühl der Vertrautheit, das er in seinem Schwebezustand hier empfand, als Verwandtschaft interpretiert werden konnte. Waren all das Elemente einer Übergangsvision? Wenn ja, dann tat Edgar hier nichts anderes als darauf zu warten, dass sein Lebenslicht erlosch.

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